„Die MBE wächst und verändert sich fortlaufend.“ Ein Gespräch über 20 Jahre Migrationsberatung
Seit dem Start der Migrationsberatung in ihrer heutigen Form im Jahr 2005 ist Ute Afane Beraterin im MBE-Programm. Sie arbeitet bei der Zentralen Bildungs- und Beratungsstelle für Migrant*innen e.V. (ZBBS) in Kiel, die Mitglied im Paritätischen Gesamtverband ist. Sie erzählt, was sich in der Beratungs- und Netzwerkarbeit in 20 Jahren Migrationsberatung gewandelt hat und was über all die Jahre ähnlich geblieben ist.
Wie sind Sie zur Migrationsberatung gekommen?
Ute Afane: Ich habe in Erfurt Diplom-Pädagogik studiert und dann im Rahmen meines Studiums ein Praktikum bei der Ausländerbeauftragten der Evangelischen Kirche in Erfurt gemacht. Durch dieses Praktikum bin ich zu der Thematik Migrationsberatung gekommen und habe erst ehrenamtlich mitgearbeitet. Später war ich dann als Ausländerbeauftragte der Evangelischen Kirche in Erfurt tätig. Die damals so betitelte „Ausländerarbeit“ beinhaltete neben der Beratung der Geflüchteten ebenso eine engere Begleitung der Menschen im direkten Kontakt zu Behörden. Im Rahmen meiner damaligen Tätigkeit handelte es sich vor allem um ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen, Spätaussiedler*innen und Asylbewerber*innen. 2003 bin ich dann aus persönlichen Gründen nach Schleswig-Holstein gezogen und durch eine Stellenausschreibung für die Migrationssozialberatung im September 2003 zur ZBBS nach Kiel gekommen.
Gab es bei der ZBBS in Kiel bereits eine Beratungsstruktur als Vorläufer der MBE?
Ute Afane: Bei der ZBBS gab es schon eine vom Land geförderte Migrationssozialberatung, Deutschkurse und ein ESF-Projekt. Mit Einführung des Zuwanderungsgesetzes und dem Start der neuen bundesgeförderten Migrationsberatung ab 2005 hat sich die ZBBS über den Paritätischen Gesamtverband für die MBE beworben. Wir hatten anfangs nur wenige Beratungsstunden und sind mit 19,5 Wochenstunden in Kiel gestartet. Durch meine Vorgängerin in der Migrationssozialberatung waren bereits schwerpunktmäßig Asylbewerber*innen aus dem Kongo, Togo und Ghana in der ZBBS verortet. Weil ich Englisch und Französisch spreche, kamen die Menschen dann übergangslos zu mir in die Beratung.
Ute Afane vor der Tür des Büros der MBE-Beratung bei der ZBBS e.V. in Kiel, © Ute Afane/ZBBS e.V.
Im Laufe der Zeit ist die Migrationsberatung der ZBBS aber gewachsen? Sie sind ja mittlerweile auch nicht mehr die einzige MBE-Beraterin in der Beratungsstelle.
Ute Afane: Heute hat die ZBBS einen so großen Stellenanteil wie noch nie. Wir haben die MBE-Arbeit über die Jahre ausgeweitet vor dem Hintergrund, dass die AWO in Kiel die MBE-Beratung 2018 abgegeben hat. Somit konnte der Paritätische Stellenanteile übernehmen und die ZBBS eine zweite halbe Stelle hinzugewinnen, die seit Februar 2019 durch eine Kollegin mit russischen und türkischen Sprachkenntnissen etabliert wurde. Ende 2023 ist das DRK in Kiel aus der Beratung ausgeschieden. Dadurch konnten wir weitere Stellenanteile hinzubekommen.
Wie würden Sie die Migrationsberatung grundsätzlich beschreiben?
Ute Afane: Die MBE dient neben dem Spracherwerb als wichtiger Baustein im Integrationsprozess der Menschen. Die Migrationsberatung ist ein Türöffner durch Informationsvermittlung und Übersetzung des gesellschaftlichen Systems, damit Zugewanderte die deutsche Gesellschaft verstehen können und damit auch der Zugang zu Teilhabe am System ermöglicht wird. Die Menschen werden individuell da abgeholt, wo sie gerade stehen, und es wird gemeinsam ein „roter Faden“ entworfen, um Perspektiven für ein Leben in Deutschland zu erarbeiten.
In den letzten 20 Jahren sind aus ganz unterschiedlichen Gründen und aus vielen verschiedenen Ländern Menschen nach Deutschland zugewandert oder hierher geflohen. Dadurch entwickelt sich die Beratungsarbeit wahrscheinlich stetig weiter?
Ute Afane: Die MBE wächst und verändert sich fortlaufend. Je nachdem, wie die politischen Entscheidungen getroffen werden, ändern sich sowohl die gesetzlichen Regelungen als auch die Schwerpunkte in der Beratung. Zum einen haben sich die Herkunftsländer stark verändert. Ab 2005 waren Irak, Türkei, Russland die Hauptherkunftsländer, bei uns außerdem Kongo, Togo und Ghana. Spätaussiedler*innen kamen am Anfang auch in die Beratung, das ist mittlerweile aber seltener geworden. Zurzeit sind vor allem Menschen aus Syrien, Iran und Afghanistan in der Beratung, daneben auch Ratsuchende aus der Ukraine und Ghana sowie Nigeria.
Die Beratung von EU-Bürger*innen hat in den letzten 10 Jahren zugenommen und macht heute etwa 8 bis 10 Prozent aus, das betrifft insbesondere Menschen aus Bulgarien, Rumänien und Polen. Wenn es Probleme mit der Arbeit gibt und es um Fragen von schlechten oder diskriminierenden Arbeitsbedingungen geht, arbeiten wir mit dem Projekt Faire Integration zusammen.
Und thematisch?
Ute Afane: Die Themen Arbeit, Arbeitsmarktzugang, System Jobcenter/Leistungsbezug, Rückzahlungen/Schulden, die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse und die Fachkräfteeinwanderung haben immer mehr zugenommen in der Beratung, was auch mit dem Prozess der Öffnung des Arbeitsmarktzugangs einhergeht.
In welchen Bereichen hat sich die Beratungsarbeit der MBE aus Ihrer Sicht in letzten 20 Jahren am deutlichsten verändert?
Ute Afane: Die Art bzw. die Zeit für Beratungsfälle in der MBE-Beratung hat sich gewandelt. Am Anfang waren die Fallzahlen geringer und 50 Prozent der Fälle wurden intensiver mit der Methode des Case Management beraten, was eine intensivere Begleitung im Integrationsprozess zufolge hat. Heute ist der äußere Druck durch deutlich mehr Beratungsfälle gestiegen, Beratungsressourcen bei anderen Projektträgern brechen weg und wesentlich mehr Krisenberatungsfälle kommen hinzu. Durch die welt-, aber auch innenpolitische Lage verändert sich die Gesellschaft, was zur Folge hat, dass der Rechtsdruck in Deutschland wieder steigt und Aufenthalte durch Abschiebungen verstärkt beendet werden. Dadurch sind die Ratsuchenden sehr beunruhigt und verängstigt. Das gesellschaftliche Klima macht ihnen große Angst. Das hatten wir vorher in der Beratung so nicht.
Und was ist in der Beratung gleich oder ähnlich geblieben?
Ute Afane: Was sich durchzieht sind die Themen des Spracherwerbs, des Familiennachzug und der Aufenthaltsverfestigung. Das Thema Arbeitsmarkt liegt in Deutschland nach wie vor fern, solange man die Sprache noch nicht spricht und noch im Sprachkurs ist. Die Informationsvermittlung zu unserem gesellschaftlichen System in Bezug auf Arbeit, Sozialsystem, Leistungsbeantragung, Melde- und Mitteilungspflichten und der damit verbundenen Abwicklung des Schriftverkehres stellt unvermindert einen hohen thematischen Anteil in der Beratungsarbeit dar. Das ganze System des Schriftverkehrs mit Behörden belastet die Menschen extrem, da sie sich dem nicht gewachsen fühlen, auch nach einem erfolgreich absolvierten Sprachkurs mit B1-Sprachstand nicht. Das ist über all die Jahre festzustellen.
Ute Afane im Beratungsgespräch, © Ute Afane/ZBBS e.V.
Wie hat diese thematische Vielfalt Ihre Beratungsarbeit geprägt?
Ute Afane: Die Anforderungen an die Beratung sind gestiegen, die gesetzlichen Regelungen sind umfangreicher und komplexer geworden. Durch politische Entscheidungen auf Bundesebene wurde das Aufenthaltsgesetz in den letzten Jahren stark verändert, so dass in der MBE eine ständige Fortbildungsbereitschaft, Reflexion und ein kollegialer Austausch notwendig ist, um eine gute Qualität in der Beratung zu halten. Die Vielfalt der Themen in der Arbeit macht aber auch das Spannungsfeld aus und jeder Beratungsfall ist individuell und neu, so dass die Arbeit auch nach 20 Jahren immer herausfordernd geblieben ist. Durch politische Veränderungen innerhalb der 20 Jahre gab es immer wieder ein Auf und Ab in der Migrationspolitik, was mehr oder weniger Spielräume für die Menschen möglich gemacht hat. Jetzt erleben wir wieder eine Zeit der Restriktionen und aufenthaltsrechtlichen Einschränkungen, was die humanitäre Beratungsarbeit wesentlich schwieriger macht, da zum Beispiel der Familiennachzug für subsidiär Geschütze wegfallen soll und auch der Landeserlass für den erweiterten Familiennachzug für Syrer*innen mit Erwerbseinkommen und Übernahme einer Verpflichtungserklärung in Schleswig-Holstein nicht verlängert worden ist.
Welche Herausforderungen sehen Sie in der Beratungsarbeit?
Ute Afane: Da die Themen sehr komplex und vielschichtig sind, arbeiten wir auch mit Verweisberatung zu anderen Regeldiensten, was für die meisten Menschen komplett neu ist und auch erstmal einer interkulturellen Öffnung bedarf. Dies bezieht sich sowohl auf die Mehrheitsgesellschaft mit seinen Regeldiensten als auch auf die Zugewanderten, die das Beratungssystem nicht kennen und nicht mehreren Personen ihr Vertrauen schenken wollen.
Außerdem ist unsere Erfahrung, dass auch länger hier lebende Migrant*innen Integrations- und Förderbedarf haben. Manche Themen ploppen erst später auf, auch weil es vielleicht vorher Hemmnisse gab. Wenn wir uns nur auf die Neuzugewanderten fokussieren und jene, die länger da sind, abweisen, werden Menschen auf der Strecke bleiben, weil die Regeldienste es nicht automatisch übernehmen können und Hintergrundwissen und Zugänge zu den Menschen fehlen.
Und ein dritter Punkt: Die Behörden verlangen zunehmend digitale Zugänge von Klient*innen, was einerseits Wege verkürzt und die Papierflut eindämmen soll, aber andererseits können dabei nicht alle Menschen, z.B. Analphabet*innen oder Menschen mit psychischen Hemmnissen, mitgenommen werden.
Wie hat sich die Zusammenarbeit mit den kommunalen Behörden und anderen Beratungsstellen entwickelt?
Ute Afane: Die Netzwerkarbeit ist mit der Zeit nicht einfacher geworden, denn das Netzwerk ist immer Veränderungen unterworfen, weil sich auch Player ändern und Projekte enden. Die Nachhaltigkeit von Netzwerkarbeit ist brüchig und muss immer wieder neu erschlossen werden. Mit dem Jobcenter haben die Migrationsfachdienste in Kiel schon 2008 eine erste Kooperationsvereinbarung geschlossen, die inzwischen mehrfach überarbeitet worden ist und einen engen Austausch durch einen regelmäßig stattfindenden Arbeitskreis gewährleistet. Hier findet ein intensiver Austausch statt und die Zusammenarbeit läuft gut.
Mit der Ausländerbehörde läuft es dagegen schlecht. Die zeitlichen, strukturellen und personellen Ressourcen der Behörde sind seit Jahren mangelhaft und diese strukturellen Baustellen erschweren die kontinuierliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit den Migrationsfachdiensten. Alle Prozesse dauern länger, die Klient*innen können ihre Anliegen nicht direkt persönlich vorbringen, die Ausländerbehörde ist immer schwieriger zu erreichen und durch ständig wechselnde Amtsleitungen kommt der strukturelle Änderungsprozess nicht voran.
Sie hatten eben schon die Frage der interkulturellen Öffnung angesprochen.
Ute Afane: Die interkulturelle Öffnung der Regeldienste ist ein dauerhaftes Thema. Hier ist die MBE dran und arbeitet immer wieder durch die Einzelfallarbeit an der Öffnung. Dabei kommt es immer auch auf die Netzwerkpartner an und wie offen die dem Thema gegenüberstehen. Und das hat auch immer etwas mit einer persönlichen, politischen Haltung und der gesellschaftlichen Öffnung zu tun.
Wie hat sich die Zusammenarbeit der MBE-Stellen in Kiel und darüber hinaus in den 20 Jahren entwickelt?
Ute Afane: Alle MBE-Stellen kommen regelmäßig mit den landesgeförderten Migrationsberatungsstellen und den kommunalen Migrationsfachdiensten an einem gemeinsamen Runden Tisch der Migrationsfachdienste der Stadt Kiel zusammen. Dabei findet auf der Ebene des operativen Geschäfts ein fortwährender Austausch statt sowie auch auf der Entscheidungsebene der Träger. Die Zusammenarbeit hat sich in all den 20 Jahren eng und kooperativ gestaltet und wir haben zusammen an gemeinsamen Prozessen und Entwicklungen innerhalb der Kommune mitgewirkt. Aufgrund der schlechten finanziellen Ausstattung des MBE-Projektes ist es aber seit 2018 dazu gekommen, dass immer mehr Träger, zuerst die AWO, jetzt Ende 2024 das DRK, aus dem MBE-Programm aussteigen. Damit ist aktuell keine gute Versorgung mehr gewährleistet. Wir hoffen sehr, dass das BAMF dieses Jahr Veränderungen vornehmen wird, so dass sowohl die Personalkostensätze tariflich angepasst als auch die Eigenmittel der Träger herabgesetzt werden. Es bleibt abzuwarten, wie die aktuelle Bundesregierung weiterhin Kürzungen im Sprachkurs- und Integrationsbereich vorsieht und sich der Haushalt gestaltet. Wir wünschen uns sehr, die nachhaltige und kontinuierliche Arbeit der MBE auch in der Zusammenarbeit mit anderen Trägern zukünftig fortsetzen zu können.
Wie haben die MBE-Beratung und andere Beratungsangebote in der ZBBS in all den Jahren zusammengewirkt?
Ute Afane: Unser Verein der Zentralen Bildungs- und Beratungsstelle von Migrant*innen in Kiel ist seit 2005 ebenso gewachsen und hat weitere Beratungsprojekte im Bereich des Zugangs zum Arbeitsmarkt für Geflüchtete, Anerkennungs- und Qualifizierungsberatung ausländischer Berufsabschlüsse über das bundesweite IQ-Netzwerk, Interkulturelle Garten oder Demokratieprojekte wie „Die Öffnung der Familie“ entwickelt bzw. beantragt, die ineinander greifen und das Angebot für unsere Klient*innen erweitern. Das Ziel war die Bedürfnislagen der Klient*innen aufzugreifen und ihnen durch die auf Freiwilligkeit beruhenden Angebote eine größere Teilhabe an unserer Gesellschaft auch durch eigenes Mitwirken und Ideengestaltung zu ermöglichen. Damit haben wir als kleiner Träger auch intern einen großen Organisationsentwicklungsprozess vollzogen und haben nun von ehemals fünf festangestellten Personen heute ein diverses Team von über 50 Menschen. Damit sind sowohl der Bildungs-, Beratungs- und kulturelle Veranstaltungsbereich der ZBBS ausgebaut worden. Diese Entwicklungsschritte sind sehr mutig und wichtig für unsere Organisation gewesen, damit es uns weiterhin – nun bereits 40 Jahre – in Kiel gibt und wir nach wie vor flexibel mit einem breiten Angebot für alle Menschen mit Migrationsgeschichte als Ansprechpartner zur Verfügung stehen.