Die Beratung der MBE zum Chancen-Aufenthaltsrecht
Seit Ende 2022 ist die Beratung zum Chancen-Aufenthaltsrecht ein neues Thema für die Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte (MBE). Für das MBE-Netzwerk verbinden sich mit dieser Bleiberechtsregelung Beratungen zur Berufswegeplanung und zu aufenthaltsrechtlichen Fragen einerseits mit dem für die MBE charakteristischen ganzheitlichen Blick auf die Lebensumstände und Bedürfnisse der Ratsuchenden andererseits.
Das Chancen-Aufenthaltsrecht
Das Chancen-Aufenthaltsrecht ist zum 31. Dezember 2022 in Kraft getreten. Mit dieser neuen Bleiberechtsregelung können Menschen, die bereits seit mehreren Jahren in Deutschland leben, aber aktuell lediglich über eine Duldung verfügen, für maximal achtzehn Monate eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Menschen mit einer Duldung sind formal ausreisepflichtig, ihre Abschiebung ist aber (ggf. nur vorübergehend) ausgesetzt. Sie leben somit in einer aufenthaltsrechtlichen Unsicherheit und mit der Sorge vor einer Abschiebung.
Wer den Chancen-Aufenthalt beantragen möchte, muss zum Stichtag 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ohne Unterbrechung mit einer Aufenthaltserlaubnis, einer Aufenthaltsgestattung oder einer Duldung in Deutschland leben. Von der zunächst nur befristeten Bleiberechtsregelung, die im Aufenthaltsgesetz in einer eigens dafür geschaffenen Vorschrift enthalten ist (§ 104c AufenthG), können also Menschen profitieren, die mindestens seit Herbst 2017, oft aber auch schon deutlich länger in Deutschland leben. Ausgeschlossen sind Menschen, die sich nicht zur freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen, die fortgesetzt falsche Angaben zu ihrer Identität gemacht haben oder die wegen vorsätzlicher Straftaten verurteilt worden sind (wobei sogenannte Bagatelldelikte bis 50 bzw. 90 Tagessätze unschädlich sind).
Der Chancen-Aufenthalt ist auf achtzehn Monate beschränkt und nicht verlängerbar. In diesem Zeitraum haben die Geduldeten, die bisher aus unterschiedlichen Gründen keine Aufenthaltserlaubnis erhalten oder einen erteilten Aufenthaltstitel wieder verloren haben, die Möglichkeit, die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a (für Jugendliche und junge Volljährige bis 27 Jahre) oder § 25b AufenthG (bei nachhaltiger Integration) zu erfüllen. Hierzu zählen insbesondere, aber nicht nur die weitgehende eigenständige Lebensunterhaltssicherung, der Sprachnachweis auf mündlichem A2-Niveau sowie die geklärte Identität in der Regel durch einen gültigen Pass.
Die Zahl der Menschen, die von dieser Bleiberechtsregelung potenziell profitieren konnten bzw. können, ist hoch: Zum Zeitpunkt der Einführung des Chancen-Aufenthaltsrechts waren 248.145 Menschen geduldet, gut die Hälfte von ihnen lebten seit mindestens fünf Jahren in Deutschland (siehe BT-Drucksache 20/5870, S. 35). Auch wenn einige Geduldete die Voraussetzungen für den Chancen-Aufenthalt nicht erfüllen, ergibt sich schon aus dieser Zahl von Geduldeten mit der entsprechenden Voraufenthaltszeit ein enormer Beratungsbedarf. Hier kommt nun die Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte ins Spiel.
Die MBE und das Chancen-Aufenthaltsrecht
Ratsuchende, die für das Chancen-Aufenthaltsrecht infrage kommen, gehören zur Zielgruppe der MBE. Rechtliche Grundlage hierfür ist die Verknüpfung von Integrationskurs und MBE-Beratung im Aufenthaltsgesetz (vgl. § 45 Satz 1 AufenthG). Wer zur Teilnahme an einem Integrationskurs berechtigt ist, gehört zugleich zur Zielgruppe der MBE. Diese Berechtigung zur Teilnahme an einem Integrationskurs besteht auch für Menschen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach dem Chancen-Aufenthaltsrecht. Das Bundesinnenministerium zählt konsequenterweise in seinen aktualisierten Anwendungshinweisen zum Chancen-Aufenthaltsrecht aus dem April 2024 die MBE (wie auch die Jugendmigrationsdienste) ausdrücklich zu den vorgesehenen Beratungs- und Unterstützungsangeboten. Das gilt sowohl in Hinblick auf die Vorbereitung einer Antragstellung als auch in der Frage des späteren Übergangs aus dem Chancen-Aufenthaltsrecht in eine Aufenthaltserlaubnis nach §§ 25a und b AufenthG.
Das Chancen-Aufenthaltsrecht in der MBE-Beratung
Die Inanspruchnahme der MBE-Beratung durch potenziell Begünstigte des Chancen-Aufenthaltsrechts ist regional unterschiedlich. Aufgrund der langen Voraufenthaltszeit sind sie teilweise auch an andere Beratungsstellen angebunden oder schon so gut orientiert, dass sie ihre Angelegenheiten selbst, also ohne weiteren Beratungsbedarf, regeln können.
Ein zentrales Merkmal der Beratung zum Chancen-Aufenthaltsrecht ist die oft langfristige Begleitung der Klient*innen und die sorgsame Planung des Vorgehens, wie Ulrich Schneider vom Deutschen Caritasverband berichtet. Dort ist er Ansprechpartner für die verbandlichen Gliederungen und war zuvor im Diözesan-Caritasverband Freiburg für Schulungen von Beratenden zum Chancen-Aufenthaltsrecht zuständig.
Die MBE klären mit den Ratsuchenden zunächst, ob die Voraussetzungen für eine Erteilung vorliegen, und unterstützen sie dann dabei, den Antrag bei der zuständigen Ausländerbehörde zu stellen. Dabei sind mit der Ausländerbehörde oft noch wichtige Punkte zu klären. So schreibt das Gesetz zum Beispiel vor, dass nur ein ununterbrochener Aufenthalt von fünf Jahren für das Chancen-Aufenthaltsrecht angerechnet werden darf. Daraus resultiert in der Praxis häufig die Frage, wie mit kurzfristigen Unterbrechungen umzugehen ist – wenn beispielsweise in der Vergangenheit eine Duldung nicht rechtzeitig verlängert wurde. Die Anwendungshinweise des Bundesinnenministeriums enthalten hier die Vorgabe, dass eine bis zu dreimonatige Unterbrechung grundsätzlich unschädlich sein soll. Hier können Beratungsstellen also wertvolle Unterstützung leisten, indem sie prüfen, ob eine ratsuchende Person unter Beachtung dieser Vorgabe für das Chancen-Aufenthaltsrecht infrage kommt.
Ulrich Schneider weist darüber hinaus auf Fälle hin, in denen die Ausländerbehörden besondere Anforderungen an das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung stellten oder den Antragsteller*innen bereits verjährte Straftaten dennoch vorhielten. Auch hier können die MBE durch eine genaue Prüfung des Sachverhalts Hilfestellung bieten.
Eine besonders intensive Beratung erfordern komplexe aufenthaltsrechtliche Konstellationen. Wenn sich Ratsuchende seit vielen Jahren in einem Asylverfahren befinden und überlegen, den Asylantrag zugunsten des Chancen-Aufenthalts zurückzuziehen, ist eine gute Einzelfallberatung unerlässlich. Ähnliches gilt, wenn Menschen aus der Ausbildungsduldung in den Chancen-Aufenthalt wechseln möchten. Die aufenthaltsrechtlichen Folgen (Ist ein späterer Übergang in eine Aufenthaltserlaubnis nach den Bleiberechtsregelungen der §§ 25a oder b AufenthG aussichtsreich?) sind dabei ebenso abzuwägen wie die Lebensumstände der Ratsuchenden (Wie ist die weitere berufliche Planung? Ist ein Familiennachzug geplant?), weil jeder aufenthaltsrechtliche Weg unterschiedliche Rechtsfolgen hat. In besonders verzwickten Konstellationen verweisen die MBE-Beratungsstellen an Fachanwält*innen, die dann die rechtlichen Detailfragen klären.
Nach der Erteilung: Der Beratungsbedarf bleibt hoch
Wenn die Ausländerbehörde den Antragsteller*innen das Chancen-Aufenthaltsrecht erteilt hat, ist der Beratungsbedarf keineswegs beendet. In vielen Fällen geht die Arbeit für die Ratsuchenden wie auch die Beratungsstellen nun erst richtig los. Denn die Zeit mit der Chancen-Aufenthaltserlaubnis muss gut genutzt werden, um rechtzeitig die Voraussetzungen für einen Übergang in einen der beiden im Anschluss möglichen Aufenthaltstitel zu erreichen.
Ein Problem ist mitunter, so Ulrich Schneider vom Deutschen Caritasverband, dass die 18 Monate nicht immer voll genutzt werden können. Denn von der Entscheidung der Ausländerbehörde über die Erteilung bis zur Aushändigung des elektronischen Aufenthaltstitels vergeht einige Zeit. Dies ist insbesondere für Menschen problematisch, die mit ihrer bisherigen Duldung auch ein Arbeitsverbot hatten und die nun – auch in Hinblick auf den anvisierten anschließenden Aufenthaltstitel – möglichst schnell den Einstieg in den Arbeitsmarkt schaffen wollen. Auch im Fall eines anstehenden Rechtskreiswechsels (vom Asylbewerberleistungsgesetz hin zum SGB II) entsteht teilweise ein Beratungs- und Unterstützungsbedarf, bei dem die MBE gefragt ist.
Wenn noch Sprachkenntnisse nachzuweisen sind, vermittelt die MBE ihre Klient*innen einen passenden Sprachkurs. Hier bestehen dieselben Herausforderungen, die sich auch bei anderen Ratsuchenden stellen: Weil die Plätze der Sprachkursträger oft knapp sind, mangelt es – gerade in ländlichen Räumen – insbesondere dann am passenden Sprachkurs, wenn dieser mit einer Kinderbetreuung verbunden oder mit einer bereits aufgenommenen Arbeit vereinbar sein muss. Der Unterschied ist hier nur, dass Menschen im Chancen-Aufenthalt weniger Zeit für den Spracherwerb haben. Die MBE, die mit den Sprachkursträgern vernetzt ist, hat daher die Aufgabe, diese für die besonderen Bedingungen der Ratsuchenden zu sensibilisieren. Zugleich ist bisweilen mit der jeweiligen Ausländerbehörde zu klären, dass das Zertifikat des Sprachkursträgers letztlich auch akzeptiert werden wird.
Notwendig ist darüber hinaus eine Kooperation mit dem Jobcenter in jenen Fällen, in denen die Ratsuchenden noch nicht über einen Arbeitsplatz verfügen oder aus einem bestehenden Arbeitsplatz etwa im Niedriglohnbereich in eine besser qualifizierte Beschäftigung wechseln wollen. Falls hier Fördermaßnahmen – gegebenenfalls auch eine Kombination mehrerer aufeinanderfolgender Maßnahmen – infrage kommen, sind diese zwischen MBE, Klient*in und Jobcenter gut zu besprechen. Der im Herbst 2023 gestartete Job-Turbo der Bundesregierung, mit dem insbesondere Schutzsuchende schneller in den Arbeitsmarkt gebracht werden sollen, bietet aus Sicht von Ulrich Schneider auch für einige Menschen im Chancen-Aufenthalt eine gute Perspektive, weil der Job-Turbo Spracherwerb mit der raschen Arbeitsaufnahme verbindet. Wichtig sei hierbei aber, die Weiterqualifikation im Beruf nicht aus den Augen zu verlieren.
Beratung zum Übergang vom Chancen-Aufenthalt in eine andere Aufenthaltserlaubnis
In vielen Fällen kann der Übergang vom Chancen-Aufenthalt in eine Aufenthaltserlaubnis für Jugendliche oder junge Volljährige (§ 25a AufenthG) oder bei nachhaltiger Integration (§ 25b AufenthG) mit entsprechender Planung gut organisiert werden. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die verlangten Sprachkenntnisse bereits vorliegen, die eigenständige Lebensunterhaltssicherung durch ein gesichertes Beschäftigungsverhältnis auch mittelfristig gewährleistet ist und auch der notwendige Reisepass über die Botschaft des Herkunftslandes zu beschaffen ist bzw. war.
Herausfordernder ist die Beratung der MBE einerseits in jenen Konstellationen, in denen Hürden zum Spracherwerb und/oder beim Übergang in eine gesicherte Beschäftigung bestehen oder wenn die Passbeschaffung sehr aufwendig ist bzw. sich gar als unmöglich erweist. Andererseits können eine Behinderung, eine Erkrankung oder auch ein fortgeschrittenes Alter es den Ratsuchenden erschweren, die Erteilungsvoraussetzungen für die Aufenthaltstitel nach §§ 25a und b AufenthG zu erfüllen. Diesen Menschen droht nach den 18 Monaten mit dem Chancen-Aufenthalt die Rückkehr in den Status der Duldung, womit sie wieder „formal ausreisepflichtig“ wären. In der Beratung wird daher besprochen, ob die gesetzlichen Ausnahmen der Erteilungsvoraussetzungen greifen können und welche Schritte dafür unternommen werden müssen. So sollten etwa eine Erkrankung oder eine Behinderung und eine daraus möglicherweise resultierende Erwerbsminderung möglichst amtlich festgestellt werden. Die entsprechenden Verfahren müssen rechtzeitig eingeleitet und die Voraussetzungen einer Anerkennung mit Jobcenter, Ausländerbehörde und feststellenden Behörden abgestimmt werden, um einen nahtlosen Übergang in einen Folge-Aufenthaltstitel zu gewährleisten.
Je komplexer die Fallkonstellation und entsprechend hürdenreicher der Weg in den gesicherten Aufenthalt ist, desto wichtiger ist es für die MBE, gemeinsam mit den Ratsuchenden einen genauen Plan zu entwickeln, bis zu welchem Zeitpunkt welche Schritte (Spracherwerb, Arbeitsplatz, Passbeschaffung, Nachweis von Integrationsleistungen) erledigt werden müssen. Hierfür nehmen sich die MBE in den Beratungsgesprächen Zeit und planen nach dem ersten Kontakt Folgetermine für die begleitende Beratung ein.
Zum Stichtag 29. Februar 2024 verfügten nach Angaben der Bundesregierung bereits 59.824 Menschen über eine Aufenthaltserlaubnis nach dem Chancen-Aufenthaltsrecht, die allermeisten von ihnen (50.070 Menschen) hatten zuvor lediglich eine Duldung. Darüber hinaus hatten bereits 1.073 Menschen den Wechsel aus dem Chancen-Aufenthaltsrecht in eine Aufenthaltserlaubnis nach §§ 25a oder b AufenthG vollzogen (siehe BT-Drucksache 20/11101, S. 29-34 und S. 54-56).